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Wie Ausbildung und Beschäftigung von Menschen mit Lernbehinderung gelingen kann : Datum:

Eike Thiesen, langjährige Mitarbeiterin beim Integrationsfachdienst (IFD) Schleswig-Flensburg in Schleswig-Holstein, berichtet, wie der Übergang von der Schule in den Beruf für Jugendliche mit Behinderungen gelingen kann und welche Branchen besonders offen für deren Ausbildung sind.

Eike Thiesen unterstützt Schülerin bei Beruflicher Orientierung
© Tim Schreiber

Welche guten Gründe sprechen für die Ausbildung von Menschen mit Lernbehinderung?

Thiesen: Meine Schülerinnen und Schüler identifizieren sich unglaublich schnell mit dem Betrieb. Wenn sie erstmal gelandet sind, dann sind sie richtig mit dem Betrieb verwurzelt. Sie sind sehr zuverlässig, ehrlich und leistungsbereit und haben nur wenige Krankheitstage.

Die Betriebe, bei denen die Jugendlichen arbeiten, wissen besonders ihre Loyalität zu schätzen, aber auch ihre Fröhlichkeit und Offenheit. So hat mir ein Bäcker, der einen Praktikanten mit Downsyndrom beschäftigte, erzählt, dass bei ihnen in der Backstube dann eine andere Atmosphäre herrschte. Als Mensch habe er den Betrieb verwandelt und die Kollegen waren nicht mehr so „muffelig“ wie vorher. In der Berufsschule ist zu beobachten, wie sich die Sozialkompetenz der Jugendlichen ohne Behinderung entwickelt, wenn sie gemeinsam mit unseren Förderschülerinnen und Förderschülern in einer Klasse sind. 

Von Vorteil sind auch die vielen Fördermöglichkeiten für die Betriebe, wie Zuschüsse für die Beschäftigung und Ausbildung. Über die Ausgleichsabgabe wird zum Beispiel der höhere Betreuungsaufwand im Betrieb finanziell ausgeglichen. Über das Budget für Ausbildung können alle Kosten von der Bundesagentur für Arbeit übernommen werden: Zu 100 Prozent trägt sie die Ausbildungsvergütung, außerdem die Kosten für die Anleitung und Begleitung.

Die Betriebe werden nicht alleine gelassen. Auch nach der Ausbildung werden sie bei Bedarf durch den Integrationsfachdienst unterstützt. So können uns die Betriebe jederzeit anrufen, wenn sie Hilfe brauchen.

Wie werden die jungen Menschen mit Behinderung nach der Schule auf das Berufsleben vorbereitet?

Thiesen: Die meisten Schülerinnen und Schüler, die der Integrationsfachdienst unterstützt, nehmen nach der Schule an einer Maßnahme zur Teilhabe am Arbeitsleben teil, zum Beispiel an der Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme, der BvB. Es gibt für die meisten also eine weitere Phase der Beruflichen Orientierung, in der sie sich für ein Arbeitsfeld und für einen Arbeitgeber entscheiden können. In dieser Phase haben die jungen Menschen auch die Möglichkeit sich zu qualifizieren. So können sie einen Führerschein, einen Maschinenschein oder andere Qualifikationen erwerben, die zu der Aufnahme einer Ausbildung oder eines sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnisses führen können.  

Der Integrationsfachdienst berät die Schülerinnen und Schüler mit Behinderung am Übergang Schule – Beruf. Wenn wir meinen, dass ein Jugendlicher mit einer dualen Ausbildung seine Grenzen überschreitet, raten wir davon ab und zeigen andere Möglichkeiten auf. Die klassische Vollausbildung ist bei ihnen fast nie der direkte Anschluss nach der Schule. Alternativen zur Vollausbildung können eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung sein oder die direkte Aufnahme eines Arbeitsverhältnisses. Wenn eine Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt gar nicht möglich ist, können sie in einer Werkstatt für behinderte Menschen tätig werden.

Welche Branchen eignen sich am besten für Menschen mit Lernbehinderung?

Thiesen: Interesse für eine theoriereduzierte Fachpraktiker-Ausbildung zeigten unsere Schülerinnen und Schüler bisher in den Bereichen Landwirtschaft, Gärtnerei und Hauswirtschaft.

Offen für ihre Beschäftigung sind unseren Erfahrungen nach besonders Betriebe aus der Landwirtschaft, Gärtnereien, Pflegeheime, die Hauswirtschaft, der Einzelhandel, die Lagerwirtschaft und Kfz-Betriebe. Eine gute Ausbildung und die Begeisterung der Jugendlichen mit Lernbehinderung für ihre Arbeit hat viel mit menschlicher Bindung zu tun. Gute Ausbildungsbetriebe sind daher kleine, persönlich geführte Betriebe, wo der Chef noch Chef ist, wo es Kontinuität und langjährige Mitarbeiter gibt.

Wie können Sie Betriebe für die Ausbildung von Menschen mit Lernbehinderung gewinnen?

Thiesen: Viele Betriebe finden wir über Mund-Propaganda, über Kolleginnen und Kollegen, aber auch über das häusliche Umfeld und Familien. Wenn ich einen Betrieb an der Hand habe, frage ich nach, ob es ein guter Ausbildungsbetrieb ist. Wichtig ist die Atmosphäre und dass sich der junge Mensch dort willkommen fühlt.

Bei einer Anfrage im Betrieb lege ich großen Wert auf Ehrlichkeit. So weise ich zum Beispiel darauf hin, dass die jungen Menschen nicht oder kaum lesen und schreiben können und dass Vieles mehrmals erklärt werden muss.

Sobald die Betriebe gute Erfahrungen mit den Jugendlichen gemacht haben und sie näher kennenlernen konnten, sind die meisten offener für sie. Wenn die Betriebe noch zurückhaltend sind und kein längeres Praktikum anbieten wollen, frage ich nach einem Schnuppertag. Dabei biete ich an, ein paar Stunden dabei zu sein und mitzuarbeiten. So fühlen sich die Betriebe nicht überfordert und ich kann feststellen, was die Jugendlichen können, zum Beispiel, ob sie in der Lage sind einen Besen zu halten und damit zu fegen oder eine Schubkarre zu schieben. Wenn sie das nicht können, übe ich dann mit ihnen. Der Betrieb soll nach dem Schnuppertag oder Praktikum merken, was der Jugendliche einbringen kann. In einem Kindergarten konnte eine Jugendliche gleich nach dem Schnuppertag ein längeres Praktikum anfangen, weil sie menschlich sehr gut angekommen ist.

An wen können sich Betriebe wenden, die offen für die Ausbildung von Menschen mit Behinderungen sind?

Thiesen: Betriebe können Kontakt mit Schulen aufnehmen – mit Berufsschule, Förderzentren oder Regelschulen. Erfolgsversprechend kann auch der Kontakt zu Maßnahmenträgern sein, die eine berufliche Orientierungsphase direkt nach der Schule anbieten. Wichtige Partner sind außerdem die Integrationsfachdienste und die Bundesagentur für Arbeit.

Marlon beim Schulpraktikum auf Raddampfer
© Eike Thiesen

Wie kann der Einstieg in eine Ausbildung gut gelingen?

Thiesen: Ausbildungsbetriebe und Jugendliche können sich am besten vor der Ausbildung über ein Langzeitpraktikum kennenlernen. Alle Beteiligten müssen vor der Ausbildung genau wissen, was auf sie zukommt und mit wem sie es zu tun haben. Ich weise die Jugendlichen darauf hin, dass sie lieber gleich sagen sollen, dass es bei ihnen mit dem Lesen und Schreiben schwierig ist. Dann kann sich der Betrieb darauf einstellen.

Die Jugendlichen sollten motiviert sein und eine Vorstellung für ihre eigene Lebensplanung haben. Wichtig sind außerdem ein Umfeld, das die jungen Menschen trägt und unterstützt, ein Umfeld, das sie ernst nimmt und nicht fremdbestimmt.

Eine entscheidende Rolle für die jungen Menschen mit Behinderungen spielen die fachlichen Begleiterinnen und Begleiter, zum Beispiel vom Integrationsfachdienst, die den Kontakt zu ihnen aufbauen und halten, die Netzwerke im Blick haben und kleinste Schritte mit ihnen gehen. Sie müssen Überforderung erkennen und möglichst aus dem Weg räumen. Dabei sind alle Lebensbereiche wie Arbeit, Wohnen und Freizeit in den Blick zu nehmen, weil das alles zusammenwirkt.

Ich achte bei meinen Begleitungen darauf, dass die Jugendlichen nicht überfordert werden. So ist es mir lieber, wenn sie erst mit einem Praktikum und einer Fachpraktiker-Ausbildung beginnen, als wenn sie sich am Anfang zu viel zumuten und in einer Vollausbildung scheitern. Besonders wichtig ist mir, das Selbstbewusstsein zu stärken und schrittweise vorzugehen. Im Alter von 17 bis 21 Jahren passiert unglaublich viel, da entwickelt sich vieles, womit keiner rechnet. Ganz stolz bin ich unter anderem auf einen jungen Mann, der gerade mal seinen Namen schreiben konnte, und nun in der Lage ist, in einer Werkstatt Bootsmotoren zu warten.

Worauf sollten die Betriebe besonders achten, wenn sie Menschen mit Lernbehinderung ausbilden oder beschäftigen?

Thiesen: Wichtig ist eine gute Atmosphäre und dass sich die Jugendlichen im Lernprozess gut fühlen. Wenn unsere Schülerinnen und Schüler sich ernst genommen fühlen, Wertschätzung erfahren und es dem Anleiter oder der Anleiterin gelingt, einen guten Kontakt zu dem jungen Menschen aufzubauen und zu pflegen, dann ist ganz viel möglich, dann findet Entwicklung statt. Wichtig ist außerdem, dass das gesamte Netzwerk immer im guten Austausch ist.

Was sind die größten Herausforderungen für Betriebe bei der Ausbildung von jungen Menschen mit Lernbehinderung?

Thiesen: Trotz einiger Herausforderungen lohnt sich die Ausbildung und Beschäftigung von Jugendlichen mit Lernbehinderung. Eine Chefin hatte mir nach einiger Zeit gesagt: „Am Anfang war das ja nicht so einfach. Aber jetzt gehört er ja so richtig dazu.“

Das Lesen und Schreiben ist ein Problem. Einige können relativ gut lesen, andere können gerade mal unterschreiben. Deshalb ist es wichtig, dass die Betriebe gut erklären können und Geduld haben. Arbeitsroutine ist gut, immer die gleichen Arbeiten durchführen zu lassen. Hilfreich sind Piktogramme, die zeigen, was zu erledigen ist und dadurch die Arbeit unterstützen. Wenn die Jugendlichen ein bisschen lesen können, ist es manchmal hilfreich, ihnen den Tagesplan in einfacher Sprache oder Sprachnachrichten per Handy zu schicken.

Die Betriebe sollten keine Scheu haben, Unterstützung in Anspruch zu nehmen und bei dem Integrationsfachdienst anrufen. Wenn es Probleme gibt oder Arbeiten häufiger falsch erledigt werden, sollten sie sich möglichst zeitig melden und um Hilfe bitten. Bei Bedarf komme ich dann in den Betrieb und bin direkt bei den Arbeiten dabei. Bei einem Betriebsbesuch kann ich Lösungen finden oder die Arbeitsschritte mit den Jugendlichen üben.

Im ländlichen Raum kann die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr problematisch sein. Die Praktikumszeiten machen wir deshalb hier an den Buszeiten fest. Aber auch hierbei gibt es immer einen Weg.

Wer unterstützt Ausbildungsbetriebe und Auszubildende mit Behinderung?

Thiesen: Die Betriebe werden über die Lehrkräfte der Berufsschulen unterstützt sowie über die Koordinierungsstellen Schule/Betrieb. Die Agentur für Arbeit bietet neben Zuschüssen auch eine direkte Beratung und Maßnahmen wie Assistierte Ausbildung (AsA flex). Menschen mit Behinderungen können von der Agentur für Arbeit, der Eingliederungshilfe und dem Integrationsamt gefördert werden – zum Beispiel mit dem Budget für Arbeit oder dem Budget für Ausbildung.

Bei einer anerkannten Schwerbehinderung oder Gleichstellung unterstützt auch das Integrationsamt. Die jungen Menschen können während der Ausbildung von Mitarbeitenden des Integrationsfachdiensts gecoacht und die Betriebe zu Fördermöglichkeiten beraten werden, um die Ausbildungsverhältnisse zu sichern.

Über Eike Thiesen

Eike Thiesen ist Diplom-Sozialpädagogin und beim Integrationsfachdienst im Bereich Übergang Schule – Beruf tätig. In bestehenden Ausbildungs- und Arbeitsverhältnissen unterstützt sie junge Menschen als Berufsbegleiterin.

In dem Modellprojekt ÜSB-INKLUSIV (Übergang Schule – Beruf INKLUSIV) in Schleswig-Holstein ist sie in den Kooperationsklassen des Berufsbildungszentrums Schleswig, Außenstelle Kappeln, und des Förderzentrums Schule am Markt für die Berufliche Orientierung mit zuständig. Hier wird ein guter Übergang für die Zeit nach der Schule vorbereitet – im Klassenverband und Einzelcoaching. Wichtige Bausteine sind unter anderem die persönliche Zukunftsplanung, Elterneinbindung, unterschiedliche Praktika und die Berufswegekonferenzen.

ÜSB-INKLUSIV wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) in der Initiative Bildungsketten gefördert.

Links

Förderung für Unternehmen, die Menschen mit Behinderungen einstellen oder ausbilden (Bundesagentur für Arbeit)

Assistierte Ausbildung, Informationen für junge Menschen (Bundesagentur für Arbeit)

Budget für Ausbildung (REHADAT-Bildung)

Integrationsfachdienst Schleswig-Flensburg gGmbH

Integrationsfachdienste